Aktion und Reaktion in der Malerei von Peter Degendorfer
Ist Malerei im Grunde nichts anderes als gemalte Erinnerung? Woran erinnert sich der Maler Peter Degendorfer in seinen Gemälden? Die Werke setzen sich aus starkfarbig leuchtenden Flächen zusammen, denen Linien Raum und Struktur geben. Mit sicher gesetzten Strichen teilt der Maler die Fläche in Himmel und Erde. Skripturale Gebilde kennzeichnen Figuren oder Körper. Sie deuten Gegenstände oder Personen nur an und bleiben skizzenhaft. Der Maler setzt aus diesen Elementen seine Bilder zusammen, die zwar rasch gemalt wirken, in der Summe jedoch Zeit brauchen.
Der Künstler verwendet die Farben wie sie aus der Tube kommen. Das heißt, dass er diese nicht selbst herstellt. Dennoch eignet den Bildern eine gemeinsame und eigenständige Farbigkeit. Neben dem Hang zu einem leuchtenden, kräftigen Kolorit fällt auf, dass Peter Degendorfer wenig mit tonalen Bezügen arbeitet. Vielmehr setzt er die Farben kontrastierend ein, indes nicht im Sinne des bekannten Systems komplementärer Kontraste. Rot sitzt neben Schwarz, Pink neben Rot. Grau grenzt Grün ein, Gelb verbindet sich mit Blau. Es scheint, als ob die vibrierenden Setzungen ein Ergebnis des Malprozesses selbst sind. Wir entdecken so den Maler nicht nur bei der Arbeit, sondern wir nähern uns ihm als Person.
Die Definition des französischen Philosophen und Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty (1908-1961), dass die Gestalt eine spontane Organisation des sensorischen Feldes ist, in dem es nur Organisationen gibt, die mehr oder weniger stabil und mehr oder weniger artikuliert sind, könnte bei der Analyse der Degendorferschen Gemälde von Nutzen sein. Als Gestalt sind sie sicherlich vom Maler zu einem Ganzen organisiert. Wenn Degendorfer berichtet, dass er zwar schnell arbeitet, dass er jedoch manchmal für einzelne Setzungen von Linien, Flächen, Farben oder Formen viel Zeit braucht, so bestätigt das die oben zitierte Definition Merleau-Pontys.
Degendorfer gelingt es, seine Gemälde stets zu einem stabilen Ganzen zu organisieren. Dem aufmerksamen Betrachter entgeht freilich nicht, dass die Ausgewogenheit der Komposition bezüglich Farben und Formen keine ist, die festgefügt steht. Sie ist unveränderlich für das Jetzt des aktuellen Bildes, doch schon während des nächsten malerischen Prozess‘ kann aus den gleichen Mitteln ein andersartiges Werk entstehen. So erklärt es sich, dass ältere Bilder ganz oder teilweise überarbeitet werden.
Dies führt zum Begriff Reaktion. Ergibt sich nicht jedes Gemälde als eine Summe aus Reaktionen? Setzt der Maler einen Strich oder platziert er eine Fläche, so kann er nur von dieser Setzung ausgehend weiterarbeiten.
Wenn Peter Degendorfer zu malen beginnt, liegt vor ihm die berühmte leere Leinwand. Sie bereitet ihm keinen Schrecken, davon zeugt sein mit Werken vollgestelltes Atelier. Doch dem ersten Schritt hat ein zweiter zu folgen, und diesem ein dritter, vierter, fünfter und so fort. Seine Art der Malerei ist ein dynamischer Prozess, der mit einer Kettenreaktion verglichen werden kann ebenso wie mit dem antagonistischen Prinzip von Aktion und Reaktion. Und auch hier greift die Auffassung von Merleau-Ponty, dass die Gestalt ein mehr oder weniger stabiles Gebilde ist. Die Dynamik des Prozesses stellt den Maler vor die Aufgabe, ein stabiles Gebilde zu erzeugen, wenngleich die Balance der bildnerischen Kräfte zunächst im Auge des Malers liegt. Es ist dann am Betrachter, die Komposition vor seinem inneren Auge nachzuerleben, um die vom Urheber angestrebte Ausgewogenheit zu erkennen.
Peter Degendorfer hat wiederholt im dreidimensionalen Bereich gearbeitet. Seit einiger Zeit fügt er Latten zusammen, die mit ihren schlanken Formen an Barken erinnern. Die lange Gestalt vermittelt eine langsam gleitende Bewegung. Meist sitzt oder liegt eine Figur im Heck, die das Gefährt weder zu lenken noch zu führen scheint. Vielmehr wirkt sie, als genösse sie das Hingleiten auf dem Wasser, als ließe sie sich im Strom der Ereignisse oder Erinnerungen treiben, wohl wissend, dass es im Getriebe der Welt keinen Aufenthalt geben kann.
Abschließend ein Wort zum gewählten Format und damit zu einer weiteren Eigenschaft der Gemälde Peter Degendorfers: An ihrer äußeren Gestalt fällt das hohe, schmale Rechteckformat auf, welches das Werk seit einigen Jahren dominiert. Die Anregung dazu verdankt der Maler einem Fund auf einer seiner vielen Reisen. In einer Kirche in Österreich entdeckt er Totenschilde, die dort an die
Verstorbenen erinnern. Sie zeichnen sich durch ein schlankes Hochformat aus. Ihre Aufgabe ist es, zu erinnern. So wie sich Degendorfer erinnert, wenn er ein Bild zu malen beginnt. Dem gewählten Format ist damit die Erinnerung – Memoria – folglich eingeboren, sie ist ihm ursprünglich zu eigen. In der Arbeit am Bild lässt Peter Degendorfer Vergangenes wach werden und holt es im Malprozess für einen Moment in die Gegenwart zurück. Für einen Augenblick verweilt die Erinnerung, weil sie so schön gemalt ist.
Martin Mäntele